Michelle Störmer E‑Phase

Sie setzte zögernd einen Fuß vor den anderen. Der Asphalt fühlte sich kalt und nass an. Es hatte erst vor ein paar Minuten aufgehört zu regnen und es war nur eine Frage der Zeit, bis es erneut anfing. Die Straße war bis auf ein paar streunende Katzen verlassen. Sie sah sich um. Eine seltsame Gegend, kahl und einfarbig. Grau und Brauntöne, die sich ín spiegelnden Pfützen zu einem schlammigen Matsch vermengten. Als ihr bewusst wurde, dass sie vollständig durchnässt war, begann sie erneut zu zittern. Ihr weißes Nachthemd klebte an ihrer Haut und sie schlang die Arme um sich, in dem verzweifelten Versuch etwas Wärme zu erhalten. Sie drehte sich um ihre Achse, auf der Suche nach einem Unterstand, obwohl sie wusste, dass sie keinen finden würde. Steine über Steine. Grauer Himmel. Matsch. Bis zum Horizont nichts als Matsch. Als ihr Blick mit letzter Hoffnung das Firmament absuchte, sah sie es. Ein unscheinbares, kleines Haus, viel zu weit weg, um es zu erreichen. Doch sie hatte keine andere Wahl als es zu versuchen, wenn sie nicht erfrieren wollte. Ihr war so verdammt kalt, so kalt. Sie begann zu laufen zuerst langsam und dann immer schneller Bis sie rannte und ihre Füße durch den rauen Asphalt schmerzen. Das Haus kam nicht näher. Sie versuchte mit letzter Kraft durchzuhalten, doch irgendwann wollten ihre Beine nicht mehr und sie konnte sich nicht zum weitermachen zwingen. So kalt. Sie ging auf die Knie und ihr Kopf sank, bis sie nur noch den einstiegen Kies der Straße sah. Er bildete seltsam verschwommene Formen, da es wieder zu Regnen begonnen hatte und sie die Versuche, das Wasser aus ihren Augen zu wischen, aufgegeben hatte. sie dachte daran sich einfach hinzulegen, als sie etwas dazu brachte den Kopf erneut zu heben. Sie saß vor der Veranda des Hauses, keine zehn Meter von dessen sicheren Mauern entfernt. Sie musste unbewusst so weit gelaufen sein. Einfach immer weiter, ohne es zu merken. Ihr Ziel so nahe zu sehen, gab ihr neue Kraft und sie stemmte sich vom Boden hoch.

Das Haus sah nicht verwahrlost oder verlassen aus, doch die Tür lies sich problemlos öffnen. Sobald sie das innere der Wohnung betrat umfing sie eine angenehme Wärme, welche all ihre Gliedmaßen erreichte. Sie durchsuchte die prunkvoll eingerichtete Wohnung auf der Suche nach trockener Kleidung und wurde schließlich in einer Kommode fündig. Duschen wollte sie zwar nicht, um ihre Gastgeber nicht unnötig zu verärgern, doch nahm sie sich ein trockenes Handtuch aus dem Bad. Nachdem sie sich neu eingekleidet hatte, sah sie sich weiter auf der Suche nach einem Bewohner um. Als sie die Küche erreicht hatte, hörte sie das Klicken der Haustür. Scheinbar war ihr Eigentümer erst jetzt nach Hause gekommen. Sie lief auf den Flur und sah die Person, welche gerade ihren Mantel abhing. Sie sah sie an doch konnte ihr Gesicht nicht erkennen, da sie ihr den Rücken zuwandte. Sie wollte sich bemerkbar machen, sprach die Person an und versuchte in ihr Blickfeld zu kommen. Allerdings gelang es ihr nicht. Das einzige, was sie erkennen konnte, war, dass es sich scheinbar um eine Frau mittleren alters handelte. Da sie sich nicht besser zu helfen wusste, folgte sie der Fremden, als sie durch eine breite Tür einen Raum betrat, welche sie noch nicht gesehen hatte. Die Wände waren bedeckt von Büchern und in der Mitte stand ein Sofa neben einem alten Globus. Die Person nahm sich ein Buch aus dem Regal, und setzte sich mit ihm, einer Flasche Wein mit Glas und einer Wolldecke auf das Sofa. Sie stand noch immer im Raum und beobachtete die scheinbar routinierten Handlungen. Die Person las ein paar Sätze, hielt aber immer wieder inne, scheinbar um dieselbe Passage erneut zu lesen. Nach schier endloser Zeit, wurde das Buch resigniert zur Seite gelegt. Die Person hob das Glas an die Lippen und nahm einen großen Schluck Wein. Dabei erschien sie ihr bekannt, doch wusste sie nicht woher. Die Person starrte mit leerem Blick die gegenüberliegende Wand an, als ihr eine Träne aus dem Augenwinkel lief und sie hemmungslos zu schluchzen begann. Sie barg ihr Gesicht in der Decke auf ihren Knien. Sie wollte zu ihr gehen und sie trösten, doch etwas hinderte sie daran. Nachdem sie etwas ruhiger geworden war, sah sie erneut auf und ihre Blicke trafen sich. Ihre Augen waren gefüllt mit Bedauern und sie erkannte, dass sie sich selbst ansah. Älter vielleicht, doch noch immer dieselbe. In ihren Augen fand man nicht das Bedauern etwas Unverzeihliches getan zu haben. Es war das Bedauern Nichts getan zu haben.

Es hatte sich nichts geändert. Vielleicht war sie umgeben von schönen Dingen, konnte tun was sie wollte, war frei. Und doch hatte sich nichts geändert. Sie fror immer noch. In einem großen Haus, mit wunderbaren Möbeln. Aber die Einsamkeit war geblieben, und mit ihr die innere Kälte. Sie hatte es nicht geschafft ihr entfliehen zu können. Was brachte der größte Reichtum, wenn sie nichts hatte wohin sie zurückkehren könnte. Wenn sie niemanden hatte. Wenn sie am Ende des Tages allein war. Es hatte sich nichts geändert.