Kleists Leben war eine Gradwanderung auf dem Rande des psychischen Abgrunds. Auf der Suche nach Anerkennung und Glück reiste er, getrieben wie ein Besessener, durch Europa, stets dem Wegweiser der seelischen Sehnsucht folgend, doch das Verlangen nach einem glücklichen Leben niemals stillend. Neuer Ort, neuer Versuch, sein individuelles Glück zu finden. Je mehr er scheiterte, desto überzeugter wurde er von der Ansicht, dass es für ihn keinen geeigneten Platz auf der Welt gäbe. Nirgendwo. Dies betonte er vor allem in dem letzten Brief an seine Stiefschwester Ulrike, welchen er am 21. November 1811, kurz vor dem gemeinsamen Selbstmord mit Henriette Vogel am Berliner Wannsee, verfasste: „ (…) die Wahrheit ist, dass mir auf Erden nicht zu helfen war.“

Ein zum Scheitern Verurteilter? Ein von der Gesellschaft aufgrund seiner Andersartigkeit Verstoßener?                                                                                                                                                                                    Anhand von Kleists Lebenslauf lässt sich schnell erkennen, dass der Versuch, dem eigenen Leben durch literarische Tätigkeiten und ständiges Herumreisen, einen für ihn selbst ersichtlichen Sinn zu geben, letztendlich scheitern musste. Kleist gelang es nicht, seine eigenen Charakterzüge dem Leben als preußischer Soldat anzupassen (1792 — 1797). Ebenso wenig eignete sich sein Wesen für eine einwandfreie Beamtenlaufbahn, deren Versuch er bereits nach zwei Jahren, im Alter von 29 Jahren abbrach. Nach seiner französischen Gefangenschaft als  vermeintlicher Spion (Februar 1807 — Juli 1807), durch seine ständigen Reisen war er verdächtig geworden, setzte Heinrich von Kleist alles daran, seinen Lebenssinn in dem Ausüben literarischer Tätigkeiten zu finden. Doch auch bei diesem Versuch der Adaption an die damalige preußische Gesellschaft musste er Rückschläge erleiden. Seine am 1. 10. 1810 erstmals herausgebrachten „Berliner Abendblätter“, durch welche Kleist rasch an Ansehen gewann, wurden im März des Jahres 1811, aufgrund der zunehmenden staatlichen Zensur, sowie finanziellen Schwierigkeiten, schließlich eingestellt.

Kleists gemeinsamer Selbstmord mit Henriette Vogel war folglich nicht nur eine Flucht aus seinem gescheiterten Leben, sondern auch ein Entkommen vor der Nichtakzeptanz seines unangepassten Wesens im preußischen Staate, und somit auch eine Flucht vor sich selbst. Durch den frühen Verlust beider Elternteile, der fehlenden familiären Anerkennung durch Verwandte und dem Scheitern seiner Liebesbeziehungen (Auflösung der Verlobung mit Wilhelmine von Zenge, einer preußischen Beamtentochter, im Jahr 1802), fielen jegliche sozialen Beziehungen in seinem Leben in sich zusammen. Heinrich von Kleist besaß keine Bezugsperson, der er sich hätte anvertrauen und von welcher er hätte verstanden werden können. Erst in Henriette Vogel, welche er durch eine Zeitungsannonce ausfindig machte, in der er eine Person für den gemeinsamen Selbstmord suchte, hatte er diese gefunden. Doch die Annahme, Kleist könnte sein soziales Glück doch noch verwirklichen, täuscht. Henriette war unheilbar an Krebs erkrankt und verheiratet, Kleist seit seiner gescheiterten Beziehung mit Wilhelmine von Zenge, die hauptsächlich aus Briefkontakt bestanden hatte, von Frauen distanziert, wahrscheinlich beziehungsunfähig (Artikel aus der Zeit vom 8. Januar 2011: „Der Doppelselbstmord war keine romantische Liebestat. Frauen verschmähte Kleist nach einer frühen und missratenen Verlobung, Frauen wiederum war der untersetzte, stotternde, vergrübelte Dichter im Umgang wohl kein rechter Genuss.“).

Erschreckend ist, wie genau Henriette und er alles planten: Ein Ort, an welchem der preußische König oftmals vorbeigeritten kam, ein letztes gemeinsames Mahl am See, sogar einen Tisch und zwei Stühle hatten sie aufgestellt. In ihren letzten Stunden wirkten beide sogar ausgelassen und fröhlich, wie ein glücklich verliebtes Paar, könne man meinen. Der Tod eine nahende Erlösung. Sie hatte Mann und Kind, er zurückgelassene, literarische Dokumente seines Leidens, die die Nachwelt begeistern sollten. So steckte in Kleists unbegreiflichem Wesen ein schriftstellerisches Genie, dessen entstandene Werke und Briefe die menschlichen Abgründe einer historischen Epoche, ebenso wie das Scheitern eines Individuums an der preußischen Gesellschaft dokumentieren.

Informationsquellen:

  • Zeit online: „Schöne Abgründe“, Artikel über Heinrich von Kleist, verfasst von Adam Soboczynski, veröffentlicht am 8. Januar 2011
  • Wikipedia: Artikel über Kleists Berliner Abendblätter
  • Anhang von „Prinz Friedrich von Homburg“, EinFach Deutsch à Seiten 101–103: Kleists Lebenslauf, Seite 125: letzter Brief an Ulrike.
  • Hans Joachim Kreutzer: Heinrich von Kleist, C.H. Beck Wissen (Verlag), München 2011

Lisa Neumann, Q4